Gelebte Liebe
Autor: Markus Rex
Unser Wandel in Liebe bzw. wie wir im Leib Christi miteinander umgehen, ist ein wichtiges Thema im Neuen Testament. Weil es kurze Lehrbriefe sein sollen, kann ich hier nicht auf jeden einzelnen Aspekt dazu eingehen, sondern möchte das Augenmerk besonders auf den Abschnitt in Jakobus 2,1-13 legen, wo es um das Ansehen der Person geht:
Jakobus 2,1.8.9
v.1 Meine Brüder, verbindet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, [den Herrn] der Herrlichkeit, nicht mit Ansehen der Person!
v.8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach dem Schriftwort: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«, so handelt ihr recht…
v.9 … wenn ihr aber die Person anseht, so begeht ihr eine Sünde und werdet vom Gesetz als Übertreter verurteilt.
Das Ansehen der Person bedeutet kurz gesagt Parteilichkeit, das heißt, die Bevorzugung einer Person aufgrund von Äußerlichkeiten bzw. aufgrund des Ansehens, das diese in der Gesellschaft genießt.1 Gott seinerseits sieht die Person nicht an und er erwartet von uns, dass wir es auch nicht tun.2 Das Ansehen der Person ist weder mit einem gesunden Glaubensleben noch mit dem Gebot der Liebe vereinbar.
Die Nächstenliebe wird im Vers 8 als »Das königliche Gesetz« bezeichnet. Nach Jesu Worten ist es neben dem Gebot Gott zu lieben, das größte Gebot im mosaischen Gesetz überhaupt3, obwohl es in 3 Mose 19,18 eher beiläufig erwähnt wird. Für die Gemeinde ist der Wandel in Liebe nicht ein Gebot unter vielen, sondern es ist das Gebot.4 Die Agape-Liebe ist mehr, als nur moralische Verpflichtungen einzuhalten.5
Jakobus zeigt uns einen bedeutenden Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Gebot der Liebe. Das Gesetz wird eingehalten, aber Nächstenliebe kann nur erfüllt bzw. ausgelebt werden.6 Den anderen lieben ist eine höhere Dimension, als nur seine Pflicht zu tun und dabei innerlich die Liste der Anforderungen abzuhaken. Was unseren Wandel in Liebe angeht, stehen wir immer in der Schuld unserer Glaubensgeschwister. Römer 13,8 sagt: »Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt«.
Die Person ansehen ist eine Sünde (v.8), weil es das Gebot der Liebe verletzt. In Liebe wandeln bedeutet in Gegensatz dazu, die Person nicht anzusehen. Schauen wir uns einmal das »Die-Person-ansehen« etwas genauer an. Der griechische Ausdruck dafür setzt sich zusammen aus prosopon + lambano (die Person + nehmen). Hieraus leitete sich zuerst das Wort prosopo-lempteo ab.7 Es bedeutet (falsche) Rücksicht zu nehmen bzw. jemanden (auf Kosten anderer) zu bevorzugen.8
Das zweite ähnlich klingende Wort prosopo-lempsia9 (jemanden in Augenschein nehmen), beschreibt eher, aus welchem Blickwinkel jemand betrachtet wird bzw. wie uns eine bestimmte Person erscheint (die aber vielleicht ganz anders ist). Besonders das erste Wort etablierte sich später aus den neutestamentlichen Schriften im Sprachgebrauch der Antike als der Inbegriff für Parteilichkeit.
Wie äußert sich nun dieses »Die-Person-ansehen« unter uns. Jeder Mensch hat sich im Laufe der Zeit einen bestimmten Normenkatalog zusammengestellt, was aus seiner Sicht anständig, liebenswert, anerkennenswert, schön, geschmackvoll oder richtig ist. Diese Liste lässt sich beliebig erweitern. Normalerweise geht es hierbei nicht um grundsätzliche biblische Werte (die gut und wichtig sind), sondern um eigene Ansichten darüber. Manche Christen haben ihre eigene Vorstellung davon, was geistlich ist, wie z.B. die Bekleidung, ein bestimmter Musikstil, die Freizeitbeschäftigung usw..
Was ist wohl anständiger, ins Kino zu gehen oder im Internet surfen? Oder was ist geistlicher, einen Chorus zu singen oder Popmusik im Gottesdienst zu haben? Nicht selten geraten wir wegen solcher Nichtigkeiten aneinander. Wenn wir auch bei unterschiedlichen Vorlieben bzw. Stilfragen andere vielleicht nicht gleich verurteilen, diskriminieren oder ausgrenzen, geschieht es doch manchmal, dass wir sie verändern wollen. Wir wollen sie unserer Vorstellung anpassen. Das Ansehen der Person hat damit zu tun, dass wir andere Menschen nach eigenen Ansichten und Vorlieben bewerten und welche Haltung wir daraufhin ihnen gegenüber haben. Je nachdem, wie weit sie unserer Vorstellung entsprechen, schätzen wir sie hoch ein oder betrachten sie eher abfällig.
In unserem Bibelabschnitt wird uns anhand von armen und reichen Menschen ein Beispiel dafür gegeben (Jak 2,2-3). Reiche Leute wurden in der Gemeinde hofiert und Arme wurden geringschätzig behandelt. Wir haben heute oftmals andere Gründe dafür, dass ein Gemeindeglied höher in unserer Gunst steht als ein anderes. Besonders schwerwiegend ist hierbei, dass wir sie schließlich ungleich behandeln, und das ist nicht im Sinne der Liebe Gottes.
Jakobus 2,4
… würdet ihr da nicht Unterschiede unter euch machen und nach verwerflichen Grundsätzen richten?
Wie schon gesagt, handelt es sich in diesem Vers um arme bzw. reiche Gottesdienstbesucher damals. Heute machen wir oft in anderer Weise Unterschiede. Über komische Verhaltensweisen bei Leuten, die wir sympathisch finden, sehen wir leicht hinweg. Bei denen, über die wir ohnehin schon die Nase rümpfen, hängen wir sie dagegen an die große Glocke. In diesem Zusammenhang sagte Jesus, dass wir einander nicht richten sollen.
Matthäus 7,1-5
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit demselben Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit demselben Maß, mit dem ihr [anderen] zumesst, wird auch euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen! — und siehe, der Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen!
Hier muss gesagt werden, dass es zu einem reifen Christen selbstverständlich dazugehört, andere Menschen zu beurteilen. So müssen ja auch die Gemeindeleiter ihre Mitarbeiter beurteilen. Jesus wendet sich hier gegen das Verurteilen anderer, ohne die Motive und die genauen Hintergründe zu kennen, und das, obwohl man selbst auch nicht fehlerlos ist.
Das Richten beinhaltet, dass man sich über andere stellt und nach dem o.g. eigenen Normenkatalog den Stab über sie bricht. Manchmal äußert sich das nur dadurch, dass man sie belächelt. Wenn man sich selbst als Maßstab sieht, fallen diejenigen durch das Raster, die anders sind. Eigene Fehler werden nicht mehr wahrgenommen. Den Balken im eigenen Auge erkennen wir meistens erst dann, wenn wir in den Spiegel des Wortes Gottes schauen. Das heißt, wenn wir nicht mehr uns selbst als Maßstab setzen, sondern wenn die Bibel unser Maßstab wird.
Jakobus gibt uns dafür ein Beispiel von der Einhaltung des Gesetzes.
Jakobus 2,10-11
Denn wer das ganze Gesetz hält, sich aber in einem verfehlt, der ist in allem schuldig geworden. Denn der, welcher gesagt hat: »Du sollst nicht ehebrechen!«, hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten!« Wenn du nun zwar nicht die Ehe brichst, aber tötest, so bist du ein Übertreter des Gesetzes geworden.
Da ist jemand, der zwar nicht fremdgeht, aber dafür Gerüchte verbreitet und dadurch Rufmord begeht. Ein anderer geht nett mit seinen Mitmenschen um, zieht sich aber Pornographie rein. Was ist denn jetzt besser? Die Bibel sagt, es ist beides gleich schlecht.
Niemand ist vollkommen, aber die Fehler beim anderen fallen mehr auf. Wenn demjenigen, der gerade einen anderen verurteilt hat, gesagt wird: »Was du bei dem anderen kritisierst oder belächelst, tust du ja selbst«, leugnen sie es ab. »Nein, bei mir ist das was ganz anderes!« Sie erkennen nicht, dass sie selbst auch nur Menschen sind.
Ein typisches Beispiel dafür finden wir in 2. Samuel Kapitel 12, als der Prophet Nathan den König David wegen seines Ehebruchs zur Rede stellte. Bei dem Gleichnis vom reichen Mann, der dem Armen sein letztes Schaf wegnahm, kam David anfangs gar nicht auf die Idee, dass es sich um ihn handeln könnte. Deshalb ereiferte er sich auch über dieses Unrecht und sprach übereilt das Urteil. Erst als Nathan ihn direkt ansprach: »Du bist der Mann«, erkannte er seine Schuld. Immerhin hat er sie doch noch erkannt und vor Gott Buße getan.
Wir sollen einander nicht richten, kritisieren und belächeln, sondern stattdessen barmherzig miteinander umgehen.
Jakobus 2,12-13
Redet und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen! Denn das Gericht wird unbarmherzig ergehen über den, der keine Barmherzigkeit geübt hat; die Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.
Ein Aspekt der Liebe Gottes ist Barmherzigkeit. Barmherzigkeit triumphiert über das Richten und Fingerzeigen, weil sie stärker ist. Wenn wir der Liebe Gottes in uns Raum geben, haben wir Verständnis füreinander. Unser Einfühlungsvermögen in andere nimmt zu und wir können sie trotz ihrer Andersartigkeit annehmen.
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1 NTR; Kommentar zu Jakobus 2,1
2 Römer 2,11; Epheser 6,9; Kolosser 3,25
3 Markus 12,30-31
4 Johannes 15,12.17
5 Römer 13,8-10
6Jakobus 2,10 einhalten, grch.: tereo; erfüllen, grch.: teleo
7Siehe Jakobus 2 Vers 9
8»Neuer Sprachlicher Schlüssel«, Haubeck/von Siebenthal; »Griechisches Wörterbuch«, Gemoll; »Wörterbuch zum NT«, Bauer (5. Auflage 1958)
9Siehe Jakobus 2 Vers 1