Schuld und Sühne
Autor: Markus Rex
Zum Kern der christlichen Botschaft gehört, dass Christus für uns am Kreuz gestorben ist. Sein vergossenes Blut hat uns erlöst und wir haben die Vergebung der Sünden empfangen.1 Manchen von uns ist das schon so vertraut, dass sie sich an bestimmte Aussagen und Begriffe gewöhnt haben und sich keine Gedanken mehr darum machen. Bis sie mit solchen Fragen konfrontiert werden wie: Warum war das Kreuz überhaupt notwendig? Warum hat Gott uns nicht einfach so vergeben? Warum musste so viel Blut im AT fließen? Oder gehen wir gleich bis in den Garten Eden zurück. Warum hat Gott in seiner Großmut Adam und Eva nicht auf der Stelle ihre Schuld vergeben? Warum hat er die Erlösung so kompliziert gemacht?
Das alles hat mit der Schwere und Tragweite sowohl des Sündenfalls als auch von Schuld gegen Gott allgemein zu tun. Schuld muss immer gesühnt werden. Zunächst einmal einige Schriftstellen, die zeigen, dass obwohl Sühne hauptsächlich ein Begriff aus dem Alten Testament ist, sie auch im Zentrum des Evangeliums steht.
Römer 3,24-25
… aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ist. Ihn hat Gott zum Sühnopfer bestimmt, [das wirksam wird] durch den Glauben an sein Blut, um seine Gerechtigkeit zu erweisen …
Hebräer 2,17
Daher musste er in jeder Hinsicht den Brüdern ähnlich werden, damit er ein barmherziger und
treuer Hoherpriester würde in dem, was Gott betrifft, um die Sünden des Volkes zu sühnen.
1 Johannes 2.2
… und er ist das Sühnopfer für unsere Sünden, aber nicht nur für die unseren, sondern auch für
die der ganzen Welt.
1 Johannes 4.10
Darin besteht die Liebe — nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und
seinen Sohn gesandt hat als Sühnopfer für unsere Sünden.
Sühnen bedeutet, etwas zudecken oder abwischen. Das hebr. Substantiv kopär heißt Lösegeld. Die griechische Entsprechung für Sühne, hilasmos, heißt, jemanden besänftigen oder gnädig stimmen.2
Zusammenfassend heißt Sühnen, eine ausstehende Schuld begleichen. Zur Zeit des Alten Testaments bezahlte, je nach Größe und Art des Vergehens, der Schuldner selbst mit seinem Leben oder einem festgelegten Lösegeld bzw. Sühnemittel. Der Geschädigte erfuhr auf diese Weise Genugtuung und Versöhnung war möglich. Weil es im alten Israel kein so ausgefeiltes Justizsystem, wie in den heutigen westlichen Ländern gab, galt es: »Auge um Auge, Zahn um Zahn3«. Das hatte nichts mit Rachegelüsten aufgrund unbändiger Wut zu tun. Ein zugefügter Schaden sollte lediglich in derselben Höhe ausgeglichen werden.
Außerdem weisen die verschiedenen Opferrituale im Alten Testament darauf hin, dass insbesondere Verfehlungen gegenüber Gott durch ein stellvertretendes Opfer beglichen werden konnten.
Dank sei Gott für die Erlösung. Was unsere Schuld gegenüber Gott betrifft, ist Jesus unser Sühnopfer gewesen. Dieses stellvertretende Sühnopfer wird in anderen Versen als Lösegeld bezeichnet.4 Aber wer sollte damit zufriedengestellt werden? Wem oder was gegenüber war eine Rechnung zu begleichen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch haben Theologen ernsthaft über die Vergebung von Schuld durch das Sühneopfer Jesu nachgedacht.
Der erste Erklärungsversuch ab dem 3. Jahrhundert hatte mit dem Teufel zu tun. Durch den Sündenfall hätte er ein Anrecht auf die sündigen Menschen erworben. Deshalb musste an ihn ein Lösegeld gezahlt werden, um sie aus seinen Fängen wieder freizukaufen, d.h. zu erlösen.
Ja, sündige Menschen sind in der Gewalt des Teufels. Aber hat er wirklich ein Anrecht auf sie? Welche rechtlichen Ansprüche sollte der Teufel als erschaffenes und gefallenes Wesen Gott gegenüber haben? Auch steht nirgendwo explizit in der Schrift, dass er das Lösegeld bekam. Die Erlösung schließt natürlich auch die Befreiung von aller Gewalt der Finsternis ein, aber mehr durch die Kraft Gottes und weniger durch ein Sühnemittel.5
Eine weitere Erklärung im Mittelalter war, dass dem Gesetz Genüge getan werden musste. Es gibt etliche Schriftstellen, die darauf schließen lassen. Nach Römer 8,3-4 mussten die Rechtsforderungen des Gesetzes erfüllt werden. In 1 Johannes 3,4 wird Sünde als Gesetzlosigkeit bzw. die Übertretung des Gesetzes definiert. Jede Übertretung muss gesühnt werden. Galater 4,4 sagt, dass Christus diejenigen, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, und zwar mit einem Lösegeld bzw. Sühnemittel.
Des weiteren wurde auf die moralische Weltordnung verwiesen. So wie die Naturgesetze nicht ohne weiteres ignoriert bzw. übertreten werden können, dürfen auch moralische Prinzipien nicht ungestraft übertreten werden.
Leider gibt es zu diesem Thema hin und wieder völlig überflüssige Diskussionen darüber, ob die eine oder andere Ansicht nicht eine gefährliche Irrlehre sei. Das ist wenig hilfreich auf der Suche nach zufriedenstellenden Antworten und zeugt von einer nur oberflächlichen Betrachtungsweise der Kritiker.
Kinder im Glauben freuen sich lediglich darüber, dass sie erlöst und dass ihre Sünden vergeben sind. Die Gereiften, die Väter und Mütter in Christus, haben Gott, den Vater, tiefgründig erkannt. Sie wissen um die geistlichen Zusammenhänge der Erlösung und sollten sie anderen erklären können.6
An dieser Stelle ermutige ich jeden Leser, sich mit dem Thema der Erlösung durch das Sühnopfer Jesu ernsthaft und konstruktiv auseinander zu setzten und eigene Schlüsse zu ziehen. Es gibt etwas Wahres in allen Ansichten. Problematisch ist nur, dass Gott dabei immer der Unterstellte ist, d.h., es würde dann etwas über Gott stehen, dem er verpflichtet ist und das sein Handeln bestimmt. Das kann aber nicht sein, denn Gott ist als Schöpfer die höchste Instanz. Er ist niemandem Rechenschaft pflichtig. Das legt den Gedanken nahe, dass Sühnung für die Sünde mit Gott selbst zu tun hat.
Eine plausible und zugleich herausfordernde Darlegung über Sühne bzw. Genugtuung gab der englische Theologe John Stott.7 Sie besagt im Wesentlichen, dass Gott sich selbst Genüge getan hat. Aber warum hat Gott das getan? Als höchste Person im Universum ist er doch niemandem Rechenschaft pflichtig. Dann hätte er den gefallenen Menschen auch vernichten und eine neues Wesen erschaffen können. Oder er hätte sein Vergehen unter den Teppich kehren können. Ob so oder so – niemand könnte sich bei Gott darüber beschweren.
Dass Gott weder das eine noch das andere tat, liegt im Wesen Gottes begründet. Wegen seiner unfassbaren Liebe, wollte Gott uns nicht in der Sünde zugrunde gehen lassen. Aber wegen seiner Heiligkeit konnte er die Sünde nicht einfach übersehen. Diese zwei Seiten Gottes gehören unbedingt zusammen.
Gott ist vollkommen und heilig. Er ist immer der gleiche, d.h., er verändert sich niemals. Menschen sind launisch und wankelmütig. Sie sind mal so und mal so. Unbewusst vergleichen wir Gott manchmal mit der menschlichen Wesensart. Aber Gott ist in sich selbst stimmig und völlig integer. Deshalb ist es auch unmöglich, ihn zu manipulieren. Menschen setzen manchmal ihr Sonntagsgesicht auf, um anders zu erscheinen, als sie wirklich sind und unter Druck beherrschen sie sich manchmal. Aber Gott braucht keine höhere Macht, um so zu sein, wie er ist. Er ist heilig, weil er heilig ist und er liebt uns, weil er uns tatsächlich liebt. Wegen seiner Heiligkeit konnte er die Sünde nicht ungestraft lassen und wegen seiner Liebe konnte er uns nicht geben, was wir eigentlich verdient haben. Wenn wir diese zwei Seiten nicht genau beachten und somit das Wesen Gottes nicht tiefgründig verstehen, können wir die Erlösung durch das Sühneopfer Jesu nur oberflächlich erkennen.
Warum also musste die Schuld gesühnt werden? Jesus ist das Sühnopfer für unsere Sünden, vor allem deshalb, damit Gott in sich selbst Genugtuung erfährt. Er nahm sich selbst in die Pflicht.
Stell´ dir vor, vor vielen Jahren ist eine Straftat verübt worden. Inzwischen hat die Versicherung den Schaden beglichen, niemand beklagt sich mehr und der Fall ist juristisch abgeschlossen. Mit einem Mal stellt sich jemand wegen dieser Sache der Polizei. Warum tut er das? Er tut es für sich selbst, wegen seines Gewissens.
Oder da ist eine Behörde von Korruption durchsetzt, aber ein kleiner Angestellter macht nicht mit. Die anderen versuchen ihn damit zu überreden, dass sie doch am längeren Hebel sitzen und niemand sie jemals kontrollieren könnte. Doch der Angestellte weigert sich standhaft mit den Worten: »Ich will noch in den Spiegel schauen können.« Er bleibt sich selbst gegenüber treu.
Das sind natürlich keine angemessenen Vergleiche mit Gott, aber sie tragen vielleicht zum Verständnis bei, dass Sühnung zuerst mit Gott selbst zu tun hat – und wir tragen den Nutzen davon.
Gott kann sich selbst nicht verleugnen. Er kann weder seine Heiligkeit in sich selbst noch seine Liebe uns gegenüber verleugnen. Gott bleibt sich selbst gegenüber immer loyal. Der größte Beweis für seine absolute Zuverlässigkeit ist sein Erlösungswerk durch das Sterben Jesu am Kreuz. Statt die Sünde Adam zu vertuschen, blieb er sich selbst treu und kündigte die zukünftige Erlösung an. Auch als die Zeit herangereift war und es ernst wurde, blieb er sich selbst weiterhin treu und erlöste uns.
Deshalb ist auf Gott Verlass. Was er zusagt, das hält er mit Sicherheit, weil er sich sonst selbst verleugnen würde. Wer sich über Gott beklagt oder sich bei ihm beschwert, hat ihn noch nichtrichtig erkannt.
Römer 8,32 sagt:
Er, der sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht auch alles schenken?
Gott hat sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont. Was für ein großartiger Beweis nicht nur seiner Liebe uns gegenüber, sondern auch seiner eigenen Wahrhaftigkeit und Treue. Das beflügelt unseren Glauben zu ihm. Je besser wir eine Person kennen, je mehr können wir ihr vertrauen. Je mehr wir den Vater erkennen, um so größer ist unser Vertrauen zu ihm und seinem Wort. Wir können sicher sein, dass er alles hält, was er uns gegenüber versprochen hat. Er wird uns mit der Vergebung der Sünden auch alles andere schenken.
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2 Lexikon zur Bibel, Fritz Rienecker
3 2 Mose 21,24
4 Matthäus 20,28; Markus 10,45; 1 Timotheus 2,6
5 Matthäus 12,29; Epheser 1,19-23; Kolosser 2,15
6 1 Johannes 2,12-14