Der gesunde Menschenverstand
Autor: Markus Rex
In den vergangen Jahren sind schon viele gute Bücher darüber geschrieben worden, wie Gott uns führt. Römer 8,14 sagt uns: Denn alle, die durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne Gottes. Zu diesem Thema möchte ich einen Aspekt ergänzen, der dabei manchmal unterbelichtet wird, nämlich den gesunden Menschenverstand.
2 Timotheus 1,7
Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht.
Das Wort Zucht, manchmal auch mit Besonnenheit übersetzt, heißt im griech. Grundtext so-phronismos. Um den Leser nicht mit der griechischen Grammatik zu langweilen, vereinfache ich das Wort auf so-phron. Der Wortstamm phron bezeichnet die Vernunft, die Überlegung oder den Verstand. Das Wort so bedeutet, gesund zu sein. Die Verbindung beider Worte bezeichnet somit maßgeblich den gesunden Menschenverstand. Der Begriff so-phron kommt an mehren Stellen im NT vor. In Markus 5,15 wird z.B. von dem Gadarener gesagt, den Jesus kurz zuvor von Dämonen befreit hatte, dass er vernünftig dort saß. In Apostelgeschichte 26,25 erwiderte Paulus dem Festus, dass er nicht verrückt ist, sondern wohlüberlegte Wort spricht. Als Paulus in Korinth auftrat, war er in der Gemeinde bei Sinnen, d.h., er war bei klarem Verstand (2 Kor 5,15).
Manchmal werden Gottes Führung und der gesunde Menschenverstand gegeneinander ausgespielt. Wenn z.B. jemand vor einer Entscheidung steht, werden Bemerkungen wie „Ich werde mal überlegen, was ich als nächstes tue“ als ungeistlich abgestempelt. „Du musst den Herrn fragen“ wird ihm schnell geraten. Aber sowohl die „vernünftige“ als auch die „geistliche“ Seite ist biblisch. Als die geistliche Seite betrachte ich in diesem Zusammenhang Gottes direktes Reden, meistens durch einen inneren Eindruck bzw. geistlichen Impuls, was jeder Gläubige erwarten kann. (vergl. Röm 8,16). In Psalm 23 wird Gott als unser Hirte beschrieben, der uns führt und leitet. Jesus bestätigte das, indem er sagte: Meine Schafe hören meine Stimme (Joh 10,27). Wir haben auch die Verheißung in Jesaja 55,12: Denn ihr werdet mit Freuden ausziehen und in Frieden geleitet werden.
Parallel dazu bekräftigt das NT die „vernünftige“ Seite, die allerdings nicht weniger „geistlich“ ist. Zum Beispiel Epheser 5,15: Seht nun darauf, wie ihr mit Sorgfalt (d.h. überlegt) wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise … oder Kolosser 4,5: Wandelt in Weisheit denen gegenüber, die außerhalb der Gemeinde sind … . Jesus beklagte, dass sich die Kinder der Welt manchmal klüger verhalten, als die Kinder Gottes. Er sagte, wer einen Turm bauen will, kalkuliere zuvor die Kosten, was mit vernünftiger Planung zu tun hat (vergl. Luk 14,28-30). In Apostelgeschichte 6 wurden die Geldmittel einer Gemeinde mit mindestens fünftausend Mitgliedern erfahrenen Männern anvertraut, die weise genug waren, vernünftig damit umzugehen.
Da beide Seiten in der Bibel stehen, müssen sie irgendwie zusammengehören. In Sprüche 3,5-6 heißt es:
Vertraue auf den HERRN von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand; erkenne Ihn auf allen deinen Wegen, so wird Er deine Pfade ebnen.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob wir den Verstand beiseite schieben müssten, wenn wir mit Gott leben wollen. (Manche Christen verhalten sich leider tatsächlich so.) Die Betonung in diesem Vers liegt aber darauf, dass wir uns in jeder Lage zuerst an Gott wenden und uns nicht allein auf unseren eigenen Verstand verlassen sollen, denn Gott hat uns nicht umsonst einen Verstand gegeben. Er möchte, dass wir ihn auch benutzen. Aber wir sollen uns nicht einbilden, wir könnten unser Leben allein durch unsere menschliche Weisheit meistern oder das Reich Gottes allein durch unsere Klugheit, durch Strategien und straffe Organisation bauen. Jesus sagte, dass wir ohne ihn nichts ausrichten können (vergl. Joh 15,5). Psalm 127,1 betont: Wenn der HERR nicht das Haus baut, dann arbeiten umsonst, die daran bauen. Ja, wir sollen unsere Schritte genau überlegen, aber Gott dabei nicht ausklammern, sondern ihn im Gegenteil in unsere Planung mit einbeziehen. Beachtenswert ist hier auch, dass Paulus einerseits schrieb, dass wir durch den Geist Gottes geleitet werden und andererseits betont, dass es genau dieser Geist ist, der mit Kraft, Liebe und dem gesunden Menschenverstand identifiziert wird (s. Röm 8,14 u. 2 Tim 1,7).
Der gesunde Menschenverstand steht nicht gegen Gottes Führung, sondern ergänzt sie. Teilweise leitet Gott uns auch nur durch unseren Verstand. Missverständnisse treten deshalb auf, weil der Verstand manchmal mit weltlicher Philosophie gleichgesetzt wird. Das ist bei Nichtchristen durchaus der Fall, deren Verstand verfinstert ist und die entfremdet sind dem Leben Gottes, wegen der Unwissenheit, die in ihnen ist (Eph 4,18). Die Christen hingegen haben erleuchtete Augen des Verständnisses (Eph 1,18 /Schl. 2000). Eine gottlose Gesellschaft wird z.B. die Familienpolitik mit anderen Augen betrachten, als die Gläubigen. Ein Christ wird normalerweise die Ehe, Sexualität und Kindererziehung anders beurteilen bzw. bewerten, als der ungläubige Nachbar. Wenn die Christen durch die Bibel Gottes Gedanken und seine Werte kennenlernen und ihr eigenes Denken daran ausrichten, können sie nicht nur das Reich Gottes, sondern auch ihr eigenes Leben besser verstehen und richtige Schlussfolgerungen ziehen. Vieles erschließt sich unserem Verstand und wir können es immer besser logisch nachvollziehen.
Ich behaupte ganz einfach mal, dass Gott nicht unvernünftig mit uns umgeht (auch wenn wir meinen, er hätte sich in manchen Dingen, die uns betreffen, geirrt). Im Gegenzug möchte Gott auch nicht, dass wir unvernünftig leben. Lasst uns dazu einen Abschnitt im Titusbrief betrachten, wo das Wort so-phron besonders häufig auftaucht.
Titus 2,1-12
v.2 … dass die alten Männer nüchtern sein sollen, ehrbar, besonnen, gesund im Glauben, in der Liebe, in der Geduld …
v.4-5 … damit sie die jungen Frauen dazu anleiten, ihre Männer und ihre Kinder zu lieben, besonnen zu sein, keusch, häuslich, gütig …
v.6 Gleicherweise ermahne die jungen Männer, daß sie besonnen sein sollen..
v.11-2 Denn die Gnade Gottes ist erschienen, die heilbringend ist für alle Menschen; sie nimmt uns in Zucht, damit wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen und besonnen und gerecht und gottesfürchtig leben in der jetzigen Weltzeit …
Die geistlich reifen Brüder sollen sich durch ein besonnenes Verhalten auszeichnen, d.h. sie sollen überlegt und vernünftig handeln.
Die erfahrenen Ehefrauen und Mütter sollen die noch unerfahrenen Frauen anleiten, ihren Platz bestmöglich auszufüllen. Das Wort anleiten in Vers 4 beinhaltete auch den grch. Stamm so-phron. Genau gesagt bedeutet es, sie sollen die jungen Frauen zur Besonnenheit, d.h. zur Vernunft bringen (s. Spr. Schlüssel, F. Rienecker). Sie sollen sie dazu anleiten, mitzudenken bzw. den Verstand einzusetzen, was den jungen Männern natürlich genauso gilt. Junge Leute denken manchmal, sie wüssten schon alles. „Wir brauchen keinen Ehe-Kurs, wir haben die Bibel und den Heiligen Geist.“ Andere wollen eine Gemeinde starten, halten aber einen Bibelschulbesuch für überflüssig. Das würde bedeuten, wir brauchen auch keine Fahrschule oder Berufsausbildung mehr, weil der HG uns ja in alle Wahrheit leitet. Solch eine Einstellung ist unvernünftig. Oder würdest du dich von einem Arzt behandeln lassen, der sich alles selbst beigebracht hat, anstatt eine ordentliche medizinische Ausbildung absolviert zu haben?
Letztendlich erzieht uns Gott durch seine Gnade, damit wir anständig und mit Vernunft leben. Es gibt viele Dinge in unserem Leben, zu denen Gott uns keine detaillierten Anweisungen gibt. Er möchte, dass wir verantwortungsbewusst leben und selbst mitdenken. Er überlässt es uns, welche Versicherungen wir abschließen, wie wir unsere Freizeit verbringen oder wie unsere Körperpflege aussieht. Allzu sorglos bzw. gleichgültig durch das Leben zu gehen ist unvernünftig. So sollten wir z.B. unsere Haustür nicht offen lassen, rasant fahren oder unser Konto überziehen in der Meinung, Gott kümmert sich schon irgendwie um uns.
Der Wortstamm so-phron kommt noch an anderer Stelle in einer interessanten Konstellation vor, und zwar in Römer 12,3
Denn ich sage kraft der Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass er nicht höher von sich denke, als sich zu denken gebührt, sondern dass er auf Bescheidenheit bedacht sei, wie Gott jedem einzelnen das Maß des Glaubens zugeteilt hat.
Die Wortgruppe höher von sich denke heißt im Griechischen hyper-phron. Zum einen gebraucht Paulus es als Wortspiel mit phron (s. Spr. Schlüssel, W. Haubeck/H. von Siebenthal) und zum anderen steht es im Kontrast zu auf Bescheidenheit bedacht, grch. so-phron. Hyper-phron bedeutet, über das gesunde Denken hinausgehen oder auch überheblich sein. Im Kontrast zu so-phron können wir auch lesen: „Seid nicht geistlich abgehoben, sondern bleibt bodenständig“. Kurz nach meiner Taufe im Heiligen Geist, traf ich in charismatischen Kreisen auf jemanden, der sich damit brüstete, keinen Terminkalender zu benötigen, weil der HG ihn an alles erinnert. Ein anderer berichtete freimütig, dass er vor jeder Entscheidung ein „Vlies“ auslegt bzw. Gott ein bestimmtes Ultimatum stellt. Andere sind zu Freizeiten gefahren, um sich von Gott ihren zukünftigen Lebenspartner zeigen zu lassen. Statt ihrem Gegenüber ihre Liebe zu erklären, beharrten sie auf Gottes Reden, der sie zusammenführen will. Bezüglich dieser Beispiele würde jeder reife Christ sagen: „Bleib mal auf dem Teppich.“
Im Neuen Testament Roth wird Römer 12,3 folgendermaßen übersetzt:
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben wurde, jedem unter euch, nicht mehr über sich selbst zu denken, als zu denken angemessen ist, sondern auf ein gesundes, vernünftiges Denken bedacht zu sein, wie Gott einem jeden ein Maß des Glaubens zugeteilt hat.
Wir werden aufgefordert, so-phron zu bleiben, also auf ein gesundes und vernünftiges Denken zu achten. Leider gibt es geistliche Überflieger, die sich so viel auf ihre scheinbaren Visionen einbilden und jeder „seelischen“ Prophetie folgen, dass sie manchmal Sachen machen, die jeder halbwegs normale Mensch als wirklich dumm einschätzt. Statt den gesunden Menschenverstand einzuschalten, möchten sie vor anderen lieber mit ihrer „Geistlichkeit“ beeindrucken.
Trotzdem gibt es echte Führungen Gottes. In der Apostelgeschichte lesen wir von spektakulären Führungen durch Engel, Träume, Visionen oder wie Gott bzw. der Geist direkt und vielleicht akustisch hörbar zu Menschen sprach. Doch so etwas hat nicht jeder Gläubige erlebt und schon gar nicht mehrmals am Tag. Normalerweise redet Gott sanft und unaufdringlich zu unserem Herzen. Wenn, dann redet er in einer klar verständlichen und für uns nachvollziehbaren Weise. Es ist keineswegs so, dass wir unseren Verstand an der Garderobe abgeben müssen, wenn wir uns zu den Gottesdiensten treffen. Wenn das Wort Gottes und der Heilige Geist in und mit unserem Verstand zusammentreffen, wird er nicht unterdrückt, sondern stimuliert und wir werden immer fähiger, in Gottes Sinne wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen.